Was ist eigentlich schön?
Was ist eigentlich schön? Eine Frage, bei deren Beantwortung uns oft die richtigen Worte fehlen. Denn wenn es alleine nur um das Gefühl geht, so wissen wir meist sehr schnell, ob wir etwas oder auch jemand schön finden. Oft sind es nur wenige Momente, in denen das Auge, der Instinkt und insbesondere die komplexen, aber blitzschnell ablaufenden Prozesse der Neurochemie die Wahl des Schönen treffen – weitaus schneller, als unser oft schwerfälliger Verstand anschließend für die Erklärung benötigt. Denn schließlich finden pro Minute zwischen 100.000 und 1.000.000 verschiedene chemische Reaktionen in unserem Gehirn statt.
Wie blitzartig uns oft das Schöne überwältigt, wenn wir ihm begegnen, beweist alleine schon die Chemie der menschlichen Begegnungen: Forschungen der Neurologin Stephanie Ortigue von der Syracuse University in New York besagen, dass wir zumeist innerhalb nur einer Fünftelsekunde entscheiden, ob ein Mensch – oder auch ein schöner Gegenstand – attraktiv auf uns wirkt oder nicht. Doch wie sieht es mit der Schönheit aus, wenn das komplizierteste Wesen der Evolution, der Mensch, ins Spiel kommt? Einer der spannendsten Aspekte ist hier, dass in der menschlichen Wahrnehmung offenbar ein Grundprinzip des Schönen existiert, das für attraktive Artgenoss:innen gleichermaßen gilt wie für die Beurteilung unserer Umwelt.
Beauty Contest der Natur
Doch warum hat es das Schöne gerade bei der Begegnung von Lebewesen so eilig?
Wer zu dieser Frage ein wenig in der Literatur zur Evolutionsgeschichte von Mensch und Tier blättert, stößt schnell auf eine einleuchtende Erklärung. Unsere Hingerissenheit vom Schönen ist unter anderem schlicht und einfach den Mechanismen der Arterhaltung zu verdanken – und hier will die Natur so wenig Zeit wie möglich verlieren, um zum Ziel zu kommen. In seinem 2018 für den Pulitzerpreis nominierten Bestseller »Die Evolution der Schönheit« beschreibt etwa der US-Ornithologe Richard Prum das höchst originelle und aufwendige Balzverhalten der sogenannten Blaubrustpipras.
Bei dieser kleinen Sperlingsart aus Südamerika werben bis zu fünfzig der mit auffällig blauem Gefieder ausgestatteten Männchen in komplizierten Tanzfiguren um nur eines der eher unauffälligen dunkelgrünen Weibchen. Doch die meisten der männlichen Blaubrustpipras sind bei diesen sorgfältig einstudierten Kunststücken völlig chancenlos. Denn die äußerst wählerischen Weibchen paaren sich nur mit wenigen der auffälligsten Alphamännchen.
Trotzdem tanzt auch der verschmähte Rest unermüdlich bei der beeindruckenden Show mit, um eines Tages vielleicht doch in der Hierarchie der sogenannten »ästhetischen Partnerwahl« aufzurücken.
Schönheit unter Lebewesen, so lernen wir daraus, ist vor allem auch ein Wettbewerb, ein evolutionärer Beauty Contest, bei dem der oder die Schönste oder Auffälligste das Wettrennen um die Pole Position bei der Partnerwahl für sich entscheidet.
Das farbenprächtige Rad eines Pfaus erklärt sich als leuchtend buntes Paarungssignal genauso daraus wie die auffällige »Hochzeitsfärbung« der Zebrafische oder das signalrote Gesäß, die leuchtend blaue Gesichtsfärbung und die goldene Mähne von Mandrillmännchen, der buntesten Säugetierart des Planeten. Sie alle sind Werbeinstrumente der Fortpflanzung, ebenso wie die Schönheit von Blumen und Blüten, deren Funktion einzig und allein darin besteht, Insekten zur Bestäubung anzulocken.
Grundprinzipien der Ästhetik
Zugleich existieren jedoch Grundprinzipien der Ästhetik, die wir alle gemeinsam schön finden: Die Proportionen des Goldenen Schnitts beispielsweise, die leuchtende Farbe Blau oder die Harmonie der runden Kreisform.
Der goldene Schnitt
Der goldene Schnitt
Die mathematische Relation des sogenannten »Goldenen Schnitts«, eine als optisch besonders angenehm empfundene Teilung von Größenverhältnissen, findet sich in harmonischen Gesichts- und Körperproportionen genauso häufig wieder wie in den Strukturen der Natur.
Die Anordnung der Samen einer Sonnenblume folgt diesem geheimnisvollen universellen Schlüssel des Schönen genauso wie die Spiralform eines Schneckenhauses oder unserer DNA. Und auch die Pyramiden von Gizeh, Leonardo da Vincis Mona Lisa oder Michelangelos Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle definieren ihre Schönheit über dieselben ausgewogenen Proportionen ihres Aufbaus, die z. B. auch das Logodesign von Twitter oder Pepsi-Cola prägen oder auch die Seitenverhältnisse einer Kreditkarte.
Auch in der Mathematik und damit in den Grundprinzipien von Architektur und Design ist der Goldene Schnitt allgegenwärtig. Als sogenannte Fibonacci-Folge, benannt nach Leonardo Fibonacci, einem der bedeutendsten Mathematikgelehrten des Mittelalters, ist er in einer sich endlos fortsetzenden Folge von Zahlen darstellbar, bei der sich die jeweils folgende Zahl durch Addition ihrer beiden vorherigen Zahlen ergibt.
Die mathematische Formel des Schönen führt damit geradewegs in die Unendlichkeit, denn auch die Geschwindigkeitsverhältnisse der Planetenumlaufbahnen und auch der Aufbau unseres Universums und seiner Spiralnebel sind exakt nach ihr geordnet – ganz so, als wäre die gesamte Schöpfung nach dem Bauplan eines unsichtbaren, unfehlbaren Mathematikers, Designers oder Architekten entstanden.
Die leuchtende Farbe blau
Die leuchtende Farbe blau
Unser Schönheitsempfinden hat im universellen Maßstab einerseits viel mit den auf geheimnisvolle Weise geordneten Grundstrukturen unserer Welt zu tun, zugleich aber auch mit unseren zutiefst im Inneren gespeicherten Erinnerungen, die uns allen gemeinsam sind. Denn warum empfindet die Mehrheit der acht Milliarden Menschen weltweit beispielsweise die Farbe Blau als am schönsten und angenehmsten?
Die Antworten darauf liegen in unserer Umwelt und in unserer Erinnerung. Denn Blau lieben wir als Farbe, weil es uns an tiefes, klares, sauberes Wasser und damit an unser wichtigstes Lebenselement erinnert. Oder auch an den Himmel, den wir seit Anbeginn unserer Existenz stets über uns sehen und der für uns unentbehrliche Atemluft genauso wie das faszinierende Rätsel der Unendlichkeit und Göttlichkeit bedeutet.
Die Form des Kreises
Die Form des Kreises
Die Kreisform, so bestätigt etwa der portugiesische Forscher und Informationsdesigner Manuel Lima in seinem 2017 veröffentlichten Bestseller »The Book of Circles«, empfinden wir übereinstimmend als geometrisches Schönheitsideal, da Kreise in mikroskopischer ebenso wie in galaktischer Dimension unser gesamtes Universum prägen. Die Erde, die Sonne, Planeten und Galaxien – sie alle basieren auf der Urform des Kreises, ebenso wie Atome, Mikroorganismen, die Zellen unseres Körpers, so gut wie sämtliche Strukturen der Natur und nicht zuletzt auch unser sehendes Auge selbst.
"Auf die Schönheit der Natur reagiert unser Empfinden einheitlich positiv. Bei Kunst und Design nehmen wir allerdings das Schöne von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich wahr."